Weltsichten

Die Entwicklung einer Weltsicht ist Aufgabe des menschlichen Verstandes. Schauen wir uns anhand eines einfachen Modells an, wie der Prozess der Herausbildung einer Weltsicht abläuft:

Die Hauptdarsteller des Modells sind "der Mensch" und "die Welt": Beide haben ein Verhalten: Das heißt, der Mensch hat ein Verhalten und die Welt hat ein Verhalten.

Der Mensch hat darüber hinaus bestimmte Ziele, Bedürfnisse und Wünsche, nach deren Erfüllung er strebt. Damit die Ziele, Bedürfnisse und Wünsche des Menschen Erfüllung finden, müssen das Verhalten des Menschen und das Verhalten der Welt auf eine bestimmte Weise zusammenspielen. Um zum Beispiel mit Hilfe der Jagd Hunger zu stillen, muss der Mensch jagen gehen und die Welt muss ein Tier vorbeischicken, das der Mensch töten kann. Deshalb versucht der Mensch das Verhalten der Welt zu verstehen, um dann sein eigenes Verhalten so darauf abstimmen zu können, dass es zu den vom Menschen angestrebten Resultaten kommt.

Der Begriff "die Welt" steht in diesem Modell für alles, was der Mensch außerhalb von sich selbst wahrnehmen kann, also zum Beispiel auch andere Menschen. Auch der menschliche Körper ist in diesem Modell der Welt zuzurechnen, da der Mensch seinen Körper wahrnehmen kann. Exakter wäre es eigentlich vom "Ich" und der "Welt" zu sprechen. Das "Ich" ist das, was wahrnimmt und die "Welt" ist das, was wahrgenommen wird. Da ich aber annehme, dass eine solche Ausdrucksweise für die meisten Menschen etwas gewöhnungsbedürftig wäre, bleibe ich aus Gründen einer einfacheren Lesbarkeit in den nächsten Kapiteln noch bei "Mensch" und "Welt".

Ausgangspunkt für den Prozess der Herausbildung einer Weltsicht ist ein positives Resultat, das zunächst auf irgendeine unspezifizierte Weise erzielt wird, z.B. durch einfaches Ausprobieren. Ein Mensch hat also auf irgendeine Weise ein positives Resultat hervorgebracht und nun beginnt der menschliche Verstand Fragen zu stellen:

Ziel dieser Fragen ist es, den Erfolg in der Zukunft wiederholen zu können. Der Mensch versucht mit Hilfe seines Verstandes die für den Erfolg ausschlaggebenden Aspekte seines Verhaltens zu erkennen. An dieser Stelle ist es nützlich, die grundlegende Arbeitsweise des Verstandes zu verstehen:

Der Verstand versucht die ihn umgebende Welt mit Hilfe von Ideen zu beschreiben. Dabei ist es ein grundsätzliches Dilemma, dass der "Welt" eine nahezu unendliche Komplexität innewohnt, während die Arbeitsweise des Verstandes mit Ideen als Grundbausteinen in ihrer Komplexität begrenzt ist. Das heißt, die Welt besteht aus unendlich vielen Teilen und Querbeziehungen zwischen diesen Teilen, aber der Verstand kann nur eine begrenzte Menge von Elementen und Querbeziehungen verarbeiten.

Während der Verstand versucht, die Welt über Ideen zu beschreiben, muss deshalb zwangsläufig ununterbrochen ein Vereinfachungsprozess stattfinden:

Der Verstand greift aus der unendlichen Komplexität der Welt bestimmte Aspekte heraus und verknüpft sie zu einer Idee. Eine Idee ist eine Verknüpfung von einzelnen, herausgegriffenen Elementen der Welt. Es versteht sich von selbst, dass es für den Erfolg dieses Prozesses von großer Bedeutung ist, wie die Vereinfachung vorgenommen wird bzw. welche Elemente der Welt in die Bildung der Ideen einfließen.

Man kann diesen Prozess auch als "Rationalisierung" bezeichnen: "Rationalisierung" ist die vereinfachte Abbildung der Welt mit Hilfe von Ideen im Verstand. Der Verstand erschafft rationale Gebilde, welche in ihrer Gesamtheit die Weltsicht eines Menschen bilden. Und diese Weltsicht dient dem Menschen dann als Karte zur Orientierung in der Welt.

Es ergibt sich aus der Vereinfachung, dass eine Weltsicht die Welt niemals vollständig und vollkommen exakt beschreiben kann. Vielmehr stellt eine Weltsicht immer nur eine Annäherung an das dar, wie die Welt wirklich ist. Dieses "wie die Welt wirklich ist" bezeichne ich als "Realität". Die Realität ist, wie die Welt wirklich ist. Die Realität steht der Weltsicht gegenüber. Der Mensch versucht sich mit Hilfe seiner Weltsicht der Realität möglichst weit anzunähern. Aber er kann die Realität auf rationalem Wege - also mit seiner Weltsicht - niemals vollständig und exakt erfassen. Es ist eines der größten Mankos der wissenschaftlichen Weltsicht, dass diese Unterscheidung zwischen Weltsicht und Realität nicht klar getroffen wird. Das ist einer der Gründe dafür, warum sich die wissenschaftliche Weltsicht nicht weiterentwickeln kann. Die wissenschaftliche Weltsicht wähnt sich selbst mit der Realität identisch. Ich bezeichne das auch als "Identifizierung einer Weltsicht mit der Realität".

Wenn der Verstand ein positives Resultat auswertet, dann versucht er aus der unendlichen Menge von Parametern seines Verhaltens diejenigen Parameter herauszugreifen, die er für die erfolgsentscheidenden Parameter hält. Auf diese Weise entsteht ein "Konzept".

Konzepte sind spezielle Ideen, welche sich mit Verhalten in bestimmten Situationen beschäftigen. Ein Konzept besagt in etwa folgendes:

"Wenn du in Situation X das Verhalten Y an den Tag legst, dann wirst du das Resultat Z erzielen."

Man kann das auch wie eine Gleichung notieren:

Situation X + Verhalten Y = Resultat Z

Das ist im ersten Schritt der Konzeptbildung zunächst nur eine Theorie, die aus der Auswertung eines erfolgreichen Resultates entstanden ist. In einem zweiten Schritt wird das Konzept angewandt und nun muss sich zeigen, ob es funktioniert. Ein Konzept funktioniert, wenn in vergleichbaren Situationen mit dem Verhalten, das als Erfolgsfaktor identifiziert wurde, weitere Erfolge erzielt werden können.

Die Konzepte bilden einen wesentlichen Bestandteil der Weltsicht. Sie stellen die Schnittstelle zwischen Weltsicht und Verhalten dar, denn das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Weltsicht: dem Menschen ein Erfolgs-optimiertes Verhalten zu ermöglichen in Bezug auf seine Ziele, Bedürfnisse und Wünsche. Das Verhalten eines Menschen wird demzufolge in hohem Maße (aber nicht ausschließlich) von seiner Weltsicht bestimmt.

Neben den Konzepten enthält eine Weltsicht aber auch noch andere Ideen, z.B. jene Ideen, welche Aufbau und Funktionsweise der Welt erklären. Diese bezeichne ich als "theoretischen Überbau" der Weltsicht. Aus dem "theoretischen Überbau" leiten sich die Konzepte ab, die dann das Verhalten beeinflussen bzw. zum Teil auch vollständig festlegen. Zu jedem Konzept gehört immer auch ein Stück "theoretischer Überbau", welcher die Erklärung dafür liefert, warum das Konzept funktioniert (oder zumindest theoretisch funktionieren sollte).

An dieser Stelle möchte ich den Fokus auf den Entwicklungsweg lenken, den erfolgreiche Konzepte typischerweise nehmen. Bei einem erfolgreichen Konzept wurden die erfolgsbestimmenden Aspekte des Verhaltens im Rahmen der Rationalisierung richtig erfasst und es gab bereits erfolgreiche Einsätze des Konzeptes. Auch wenn ein Konzept bereits erfolgreich eingesetzt wurde, heißt das aber nicht automatisch, dass das Konzept nun in jeder Anwendung erfolgreich ist, denn es gibt ja außer dem Verhalten noch eine weitere Komponente für die erfolgreiche Anwendung. Wir erinnern uns an die "Formel" eines Konzeptes:

Situation X + Verhalten Y = Resultat Z

Die zweite erfolgsbestimmende Komponente ist die Situation. Ein Konzept ist immer nur für ganz spezifische Situationen gültig. Um es erfolgreich einzusetzen, muss die Situation deshalb richtig erkannt und zugeordnet werden. Das geschieht durch eine weitere Funktion des Verstandes, welche ich als "Differenzierung" bezeichne. Differenzierung ist die Fähigkeit,

  1. Situationen einerseits richtig zu unterscheiden, die unterschiedlich gehandhabt werden müssen
  2. und aber auch solche Situationen richtig einander zuzuordnen bzw. zusammenzufassen, die auf die gleiche Weise gehandhabt werden können.

Man kann sich erfolgreiche Konzepte vorstellen wie Werkzeuge zur Lösung von Problemen. Da es im Leben der Menschen neben einigen gelösten Problemen auch zahlreiche ungelöste Probleme gibt, ist es naheliegend, die Anwendung erfolgreicher Konzepte auf immer mehr Situationen auszudehnen. Dabei kann es dann geschehen, dass Konzepte auf Situationen angewandt werden, für die sie nicht mehr funktionieren. Das bedeutet, die Differenzierung hat nicht funktioniert. Es wurden Situationen mit dem gleichen Konzept "erschlagen", die eigentlich unterschiedlich hätten gehandhabt werden müssen.

Das wäre eigentlich kein Problem, da man ja bei der Anwendung merkt, wenn das erwartete Resultat nicht eintritt und dann läge der Rückschluss nahe, dass das Konzept auf eine unpassende Situation angewandt wurde. Und genau dieser Rückschluss funktioniert aber in vielen Fällen nicht. Anstatt die Fehlfunktion nüchtern einzugestehen und den Anwendungsbereich des Konzeptes zu überprüfen, wird die Wahrnehmung der Resultate manipuliert, um die Illusion nicht zu verlieren, man hätte eine Lösung.

Es handelt sich hierbei um eine Fehlfunktion des "isolierten Verstandes". Im Laufe der Evolution ist dem menschlichen Verstand eine wichtige Verbindung zur Realität abhandengekommen. Diesem Umstand kommt in Mythologie und Religion eine zentrale Bedeutung zu. Es handelt sich um den sogenannten "Sündenfall", der den Menschen aus dem Paradies vertrieb: Es geht dabei um die Trennung des rationalen Verstandes von seiner "Quelle". Ich persönlich bezeichne die Situation nach dem "Sündenfall" als "rationale Isolation". Die rationale Isolation führt dazu, dass die Gültigkeit von Konzepten über das Feedback der Realität gestellt wird. Mit anderen Worten:

Es wird an Konzepten bzw. an einem zu groß gewählten Gültigkeitsbereich von Konzepten festgehalten, auch wenn die Realität den Anwender in aller Deutlichkeit wissen lässt: "So funktioniert es aber nicht."

Man könnte auch von einem "gestörten Rationalisierungsprozess" sprechen. Dieser läuft folgendermaßen ab:

  1. erfolgreiches Verhalten
  2. Rationalisierung des erfolgreichen Verhaltens und Bildung eines Konzeptes
  3. erfolgreiche Anwendung des Konzeptes
  4. Verallgemeinerung des Konzeptes über den tatsächlichen Gültigkeitsbereich hinaus - dadurch Aufbau einer Illusion, im Besitz eines universalen Lösungsansatzes zu sein. Dieser Schritt ersetzt dem Verstand die Verbindung zur Realität, die er durch den "Sündenfall" verloren hat.
  5. Das negative Feedback der Realität wird "geschönt", manipuliert oder blockiert, um die Illusion eine Lösung zu haben, nicht aufgeben zu müssen.

Genau das ist auch mit der wissenschaftlichen Weltsicht passiert. Bei ihrer Entstehung war die wissenschaftliche Vorgehensweise ein partiell funktionierendes Konzept, das dann aber auf eine unzulässige Weise verallgemeinert und auf immer mehr Situationen angewandt wurde, für die es eigentlich nicht gültig ist. Dass das nicht funktioniert, wird durch verschiedene Arten von Illusion verschleiert, z.B.:

Schauen wir uns im Folgenden an,

(Wie genau die Verbindung zur Realität aussieht, die der Verstand verloren hat und wie man sie wiedererlangen kann, werde ich in einem späteren Teil des Buches darlegen.)

nächstes Kapitel: Die Entstehung der wissenschaftlichen Weltsicht (Wissenschaft)